Geschwister – Fluch oder Segen?
Nichts kann uns näher stehen, als unsere Geschwister und nichts kann uns mehr ein stetiges Ärgernis sein und zur Weißglut reizen. Wir sind durch die Geburt und Familie mit ihnen verwandt und egal wie sich die Beziehungen entwickeln, ob wir uns mögen oder nicht, sie bleiben immer Schwester und Bruder und auf einer tieferen Ebene verbunden.
Wenn es gut läuft, sind Geschwister eine verlässliche Bereicherung des eigenen Lebens, die Beziehung ist durch eine tiefe Verbundenheit gekennzeichnet. Meist geben uns diese Beziehungen ein sichereres Gefühl, als Beziehungen zu Partnern und Freunden. Durch die Familienbande entsteht eine starke Loyalität. Nicht umsonst besteht der Wunsch im Familienunternehmen, dass ein eigener Nachkomme die Nachfolge übernimmt. Geschwister wachsen zusammen auf, kennen einander von klein auf und sind mit allen Stimmungen, Ecken und Kanten vertraut. Dadurch entsteht das Gefühl verlässlicher Vertrautheit und Verbundenheit, die einem nur Geschwister geben können. Selbst wenn alle anderen Stricke reißen würden, Bruder oder Schwestern sind für mich da. Leider gibt es in den Beziehungen zu den Geschwistern auch mannigfaltige Störungen, die im späteren Leben oft zu großen Verwerfungen führen. Eine Familienaufstellung kann helfen, diese offenkundig werden zu lassen.
Vertraut und fremd zugleich
Obwohl Geschwister, sind sie natürlich alles Individuen mit einer eigenen Geschichte. Es entwickeln sich eigene Vorlieben und Abneigungen sowie Meinungen und Ansichten. Die können sich elementar von den Ansichten des/der Geschwister unterscheiden. Als Kind stechen die Auswirkungen noch nicht so ins Auge, als junger Erwachsener oder im späteren Leben kann dies jedoch dazu führen, dass einfach keine gemeinsamen Themen da sind. Obwohl sie untendrunter eine tiefe Verbundenheit spüren, haben sie sich im Leben nicht mehr wirklich viel zu sagen. Die gemeinsamen Themen, die sie hatten, als sie noch im selben Haus aufwuchsen, sind nicht mehr da. Der Kontakt ist eher spärlich, auf Belanglosigkeiten beschränkt und irgendwie ist man zwar vertraut und doch sehr fremd.
Konflikte fürs Leben
Ungelöste Konflikte in Geschwisterbeziehungen können eine Dauerbrenner fürs Leben werden und im Laufe der Zeit eine eigene Dynamik entwickeln. In Familienaufstellungen zeigt sich exemplarisch, wie die Kontrahenten sich immer wieder in denselben Verhaltensweisen wiederfinden. Erfolglos dieselben Themen mit immer gleichen Argumenten diskutieren. Ursachen können bestimmte Rollenverteilungen in der Kindheit sein. Das Ältere musste schon früh auf das Jüngere aufpassen, die Eltern arbeiteten viel oder ein Elternteil war alleinerziehend. Im schlimmsten Fall musste komplett Vater- oder Mutterrolle übernommen werden. Die Eltern, völlig überfordert oder durch eigene Traumata belastet, waren nicht in der Lage, ihre Rollen entsprechend auszufüllen. Insbesondere sensible Kinder neigen dazu, den Eltern Aufgaben oder Rollen abzunehmen. Wird dies dann vom anderen Geschwister nicht wertgeschätzt, da dieses sich im Gegenzug dauernd gegängelt und bevormundet fühlt, kann es zu permanenten Konflikten kommen. Diese lassen sich erst lösen, wenn die jeweils andere Seite ausreichend vom Gegenüber gesehen und gewürdigt wurde.
Im Dauerfeuer der Konkurrenz
Der natürliche Lauf der Dinge ist für Erstgeborene, dass sie bei Ankunft von Geschwistern plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Eltern stehen. Sie müssen nun mit den Neuankömmling um Gunst und Zuwendung buhlen. Diese Konkurrenzsituation kann langfristig das Gefühl verfestigen, dass einem durch den Nachzügler etwas genommen wurde. Der ursprüngliche Zustand lässt sich nie wieder herstellen. Das öffnet Tür und Tor für Eifersüchteleien und Streitigkeiten.
Ein weiterer Punkt der Konkurrenzgefühle begünstigen kann, sind die natürlich angelegten ödipalen Phasen, die jedes Kind in der Entwicklung durchläuft. Söhne möchten die Mutter heiraten und Töchter den Vater. Oft beobachtet man im Verlauf des weiteren Heranwachsens, dass die gegengeschlechtliche Konstellation auch bevorzugt von den Kindern gewählt wird, wenn sie ihre Wünsche durchsetzen wollen oder um Erlaubnis nach etwas fragen.
Nicht selten haben Eltern tatsächlich ein Lieblingskind, was ihnen mehr oder weniger bewusst ist und was die meisten natürlich versuchen zu verheimlichen. Selbst unterschwellige Ungleichbehandlungen durch die Eltern können von den Kindern wahrgenommen werden und Konkurrenten fürs Leben schaffen. Die Rivalität wird dann mit in die Kinderschuhe gelegt und teils unbewusst gefördert. Oft zeigt sich in einer Familienaufstellung, dass den Geschwistern im späteren Leben nicht klar ist, was der eigentliche Grund für die wiederkehrenden Konflikten und Streitigkeiten ist. Die Geschwister verstricken sich in unbewussten Dynamiken und folgen immer wiederkehrenden Abläufen.
Erbstreitigkeiten sind ein Paradebeispiel dafür, was bei ungelösten oder unbewussten Konflikten passieren kann. Die Kontrahenten stehen sich unversöhnlich gegenüber und schlimmstenfalls zerbrechen die Familienbande.
Familienaufstellungen können helfen, die Hintergründe für zugrunde liegende Dynamiken zu erkennen und zu lösen. Die Bewusstwerdung, welches Thema eigentlich dahinter liegt, bietet die Möglichkeit, künftig aus dem Kreislauf der immer selben Streitigkeiten auszusteigen. Eine systemische Aufstellung ermöglicht auf einer tieferen Ebene eine Aussöhnung mit alten Verletzungen und kann den Weg freimachen, zu einer friedlichen und liebevollen Geschwisterbeziehung.
Traumatische Verluste und Schuldgefühle
Es liegt auf der Hand, welche traumatischen Erfahrungen der Verlust von Geschwistern auslösen kann. Kontakt mit dem Menschen, mit dem eine tiefe Verbundenheit besteht, ist plötzlich nicht mehr möglich und hinterlässt eine große Lücke im eigenen Leben.
Das beginnt mit Ausgrenzung. Manche Familienmitglieder werden von ihren Familien abgelehnt und ausgegrenzt. Peter Teuschel schreibt im seinem Buch „Das schwarze Schaf“ über Benachteiligung und Ausgrenzung in manchen Familien. Das geht oft Hand in Hand mit einem massiven Gefühl der eigenen Schuld für das ausgrenzende (Fehl-)Verhalten der eigenen Familie.
Todesfälle durch Unfälle oder Krankheiten, insbesondere wenn es nicht am Lebensabend einer Person dazu kommt, sind ebenfalls äußerst traumatische Erfahrungen in der Familie. Aufgrund der starken Bindung untereinander, kann sich beim überlebenden Geschwister auch hier ein Schuldgefühl einstellen, weil es weiterlebt oder bestimmte Anzeichen nicht erkannt hat.
Dies kann sich sogar bereits im Mutterleib abspielen, wenn mit angelegte Zwillinge im Laufe der Schwangerschaft in den ersten Monaten absterben. Man spricht hier von einem vorgeburtlichen Trauma, da natürlich auch zu Zwillingen im Mutterleib, quasi ab der Befruchtung, eine starke Nähe und ein Gefühl der Untrennbarkeit besteht und es unmittelbar mitgefühlt werden muss, sollte einer der Zwillinge absterben. Diese Menschen plagt im späteren Leben oft ein Gefühl der Schuld (da sie überlebt haben) und tieferen Einsamkeit, das sie auch in grundsätzlich erfüllenden Partnerschaften nie ganz verlässt. Familienaufstellungen können auch hier Klarheit und Entlastung bringen. Für Manche ist es sehr heilsam, in so einem geführten Prozess noch einmal Kontakt mit dem verlorenen Geschwisterchen aufnehmen zu können.
Lieber jetzt als morgen
Leider blenden wir die Endlichkeit des Lebens oft aus. Wir wissen nicht, wieviel Zeit für uns vorgesehen ist und noch bleibt. Die Bewusstmachung dessen kann uns ermuntern, mit ungelösten Konflikten und Verstrickungen aufzuräumen, um eine freie und unbelastete Beziehung, mit den uns eigentlich so tief verbunden Geschwistern, leben zu können.
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