Familiäre Verstrickungen: Wie sie entstehen, welche Folgen sie haben und wie sich lösen lassen
Die wenigsten Menschen sind so frei, dass sie ihr Leben ohne Schuldgefühle frei nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten können. Dabei wünschen sie sich häufig nichts sehnlicher, als genau das. Die Ursache können familiäre Verstrickungen sein: Wenn sie ungünstig sind, verhindern sie nicht nur Karrieren und erfüllende Beziehungen, sondern machen auch krank.
Das Erbe des Zweiten Weltkriegs steckt uns bis heute noch buchstäblich in den Genen. Wir alle sind Nachfahren von traumatisierten Menschen, von Vertriebenen, Verfolgten, Gewaltopfern oder von Tätern und Mitläufern. Sie alle haben auf ihre Weise Leid, Tod und Grauen erlebt.
Später in den Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders gab es selten Platz, um über diese Erfahrungen und Gefühle zu sprechen, ihnen Ausdruck zu geben und sie schließlich zu verarbeiten. In der Folge wurden diese Päckchen unausgesprochen an die folgende Generation weitergegeben – manchmal mit verheerenden Folgen für das Lebensglück der Nachkommen und der Enkelgeneration.
Familiäre Verstrickungen entstehen nicht nur in schwerwiegenden Kriegs- und Konfliktsituationen. Sie entstehen überall dort, wo traumatischen Erfahrungen nicht genügend Platz eingeräumt wurde, um sie entsprechend zu verarbeiten.
Leidtragende sind dann oft schwächere Familienmitglieder, also meist Kinder und hier vor allem diejenigen, die (hoch)-sensibel sind.
Hinweis: Am Samstag, 18. März 2023, veranstalte ich in Berlin wieder systemische Aufstellungen in der Gruppe zum Thema Beziehungen und familiäre Verstrickungen. Hier können Sie sich anmelden.
Über die Ursache und die Weitergabe von familiären Verstrickungen
Hinter einer familiären Verstrickung verbirgt sich häufig die unbewusste Übernahme von Schuld. Dahinter steckt das Grundbedürfnis aller Menschen, sich jederzeit loyal gegenüber der eigenen Familie verhalten zu wollen.
In Situationen, in denen uns dies nicht möglich ist oder war, entwickeln wir ganz unwillkürlich Schuldgefühle — auch wenn wir nüchtern betrachtet nicht schuldig sind und es oft nicht einmal theoretisch sein könnten.
Trotzdem existieren diese Schuldgefühle in uns und sie belasten uns, denn sie verlangen permanent nach einer Bestrafung. Wenn es nun aber niemanden gibt, der uns straft, strafen wir uns unbewusst durch innere Verbote ganz einfach selbst, so wie nach dem Muster in den folgenden Beispielen:
„Ich darf nicht belasten“ – eigene Bedürfnisse werden bei überlasteten Eltern zurück gestellt
„Ich darf nicht verlassen“ – die naturgemäße Loslösung vom Elternhaus gelingt nicht
„Ich darf nicht enttäuschen“ – emotionale Erpressung durch die Eltern wird verinnerlicht
„Ich darf nicht fühlen“ – Traumatisierte Eltern sind nicht mit sich im Kontakt, das wird übernommen
„Ich darf nicht überleben“ – bei tödlichen Unfällen, Totgeburten, Suiziden
Solange wir uns solcher und ähnlicher strafender Gedanken und daraus resultierenden Verhaltensweisen nicht bewusst sind, laufen sie wie eine Art Hintergrundprogramm als ständiger Begleiter in unserem Leben. Sie sind bei allen Entscheidungen, Unternehmungen und neuen Kontakten, die wir schließen, bei uns und beeinflussen diese.
Die Folgen von familiären Verstrickungen für den eigenen Lebensentwurf
Als Kinder sind wir unserer Umgebung schutzlos ausgeliefert und darauf angewiesen, dass unsere Eltern schon die richtigen Entscheidungen für uns und unser Wohlergehen treffen werden. Eltern sind dazu nicht oder nur eingeschränkt in der Lage, wenn sie selbst in familiären Verstrickungen gefangen sind oder traumatisiert wurden.
Kinder sind perfekte Empfänger für die Übernahme von Schuldgefühlen. Sie sind nicht in der Lage, vermeintlich Gutes von vermeintlich Schlechtem zu differenzieren. Sie übernehmen Werte, Einstellungen und leider oft auch die Schuld der Eltern – insbesondere, wenn diese den Eltern ebenfalls nicht bewusst ist oder verdrängt wird. Zusätzlich sind sie nicht in der Lage, körperlichen oder seelischen Missbrauch als solchen zu erkennen, geschweige sich diesem zu entziehen. Diese Gefühle und Erfahrungen prägen ihr weiteres Leben und alle wichtigen Entscheidungen, Beziehungen und nicht zuletzt wesentlich auch ihren Selbstwert.
Zu solchen übernommenen Gefühlen können zum Beispiel die folgenden Gehören:
Scham
psychischer Schmerz
Rast und Ruhelosigkeit
Apathie
unbestimmte Trauer
Einsamkeit
Phobien
Verlustangst
Existenzängste
Schuldgefühle
Selbstwert
Platzangst
Zwänge
Blockaden
Manche Menschen in familiären Verstrickungen können nur schwer benennen, was tatsächlich mit ihnen los ist. Sie fühlen sich am ehesten, wie mit einem unsichtbaren Gewicht beladen oder spüren ganz einfach eine diffuse Unstimmigkeit in ihrem Leben und in ihren alltäglichen Entscheidungen.
Familiäre Verstrickungen: Welche Chancen eine Familienaufstellung bietet
Niemand steht uns so nah, wie unsere Eltern, Geschwister und Großeltern. Wir wiegen uns in dem sicheren Glauben, praktisch alles über diese Menschen zu wissen. Dieses Gefühl ist jedoch überwiegend eine Illusion. In nahezu allen Familien lauern die sprichwörtlichen „Leichen im Keller“. Es ist möglich, dass wir von ihnen ahnen oder sie spüren, im schlimmsten Fall übernehmen wir diese. Über diese Fähigkeit verfügen insbesondere sensible Menschen schon als Kinder.
Das Problem: Diese Sicherheit ist nicht nur eine Illusion, sie ist oft auch teuer erkauft. Ihr Preis ist Unzufriedenheit, unglückliche Partnerwahl oder mangelnde Lebensfreude die sich bis hin zur Depression entwickeln kann, um nur einige Beispiele zu nennen.
Das Unausgesprochene oder die Leiche im Keller sind tatsächlich gefährlich für uns. Sie sind es aber nur so lange, wie sie uns nicht bewusst oder nur bruchstückhaft bewusst sind.
Gelangt das Unausgesprochene an die Oberfläche, wird es greifbar. Wir können jetzt bewusst entscheiden, wie wir uns zu diesen Dingen wirklich verhalten wollen: Wollen wir loslassen? Oder abschließen? Möchten wir annehmen und Frieden schließen oder erlauben wir uns, ab jetzt eine ganz neue Haltung einzunehmen, weil wir die Motive unseres Familienmitgliedes, um das es geht, besser verstehen können?
In der Praxis erlebe ich oft, wie ausgesprochen wichtig es ist, vor allem verstorbenen Familienmitgliedern ihren Platz im Familiensystem zu geben und diese zu würdigen. Das trifft sowohl auf Suizide, als auch auf verstorbene Kinder, Fehlgeburten oder sogar Abtreibungen zu, die ebenfalls oft verheimlicht oder verdrängt werden.
Wie sich familiäre Verstrickungen lösen lassen
Eine Familienaufstellung kann den verdrängten Schmerz, die verschwiegene Schuld der Eltern- und Großelterngeneration, aufdecken. Sie hilft zu differenzieren, „was wirklich meines ist“ und wobei es sich in Wahrheit um übernommene Traumata handelt.
Nachdem das bis dahin Unausgesprochene ausgesprochen (oder auch nur erkannt wurde, weil es zum Beispiel schwerwiegende Sprechverbote gibt) kann es entsprechend gewürdigt werden. Diese Würdigung bedeutet:
Nicht länger vor der Angelegenheit wegzulaufen
Sie zu sehen als das, was sie ist
Ihr den richtigen Platz zuweisen zu können
Sie anzunehmen und um sie zu kümmern
Eine systemische Aufstellung kann einen enormen Erkenntnisgewinn bedeuten, dessen Auswirkungen sich erst in einem längeren Prozess nach der Aufstellung im Kontakt mit der eigenen Familie (oder durch das reflektieren über diese, sollte es sich um bereits verstorbene Familienmitglieder handeln) zeigen. Dazu gehören:
Bessere Abgrenzung der eigenen Person und der eigenen Bedürfnisse
Den eigenen Platz im Familiensystem und Leben finden
Lösen und Loslassen dessen, was zur Verstrickung führte
Abgespaltene Anteile integrieren und innere Verletzungen heilen
Und letztlich Frieden mit Familienangehörigen schließen (sie taten, was ihnen möglich war)
Hinweis: Am Samstag, 23. März 2023 veranstalte ich in Berlin wieder systemische Aufstellungen in der Gruppe zum Thema Beziehungen und familiäre Verstrickungen. Hier können Sie sich anmelden.